MORGENSCHWEIF | 011

Bald wurde Morgenschweif in der Ruhe gestört. Nicht, dass ihn das gestört hätte. Er war ein offener Kater, sprach gerne - wenn auch bedacht, aber das bedeutete ja nicht, dass er die Konversation scheute, sondern nur, dass er sich Mühe gab -, und dass sich Lichtfleck zu ihm gesellte, gefiel ihm.
Der Kater rappelte sich auf, schüttelte sich vorsichtig, auch wenn die Lichtung halbwegs sauber war; zumindest sauberer als einfacher, blattbefangener Waldboden; um nicht zu verdreckt zu sein, dann lächelte und sah seinem Clangefährten ins Gesicht.
"Auch dir einen guten Tag", grüßte er zurück, während er seinen Schweif auf die Pfoten legte.
"Gerade aufgewacht?", fragte er nach, da er meinte, ihn nicht durch den Lagereingang gehen gesehen zu haben, und als er selbst angekommen war, hatte er ihn definitiv nicht erblickt. Andererseits hätte er auch im Heilerbau gewesen sein können, oder in der Kinderstube - hatte er eine Familie? Morgenschweif wusste es nicht mal, aber wenn er raten müsste, hätte er eher nein gesagt, denn er konnte ihn keiner aktuellen Königin zuordnen.
Eine Familie, rief er sich selbst in den Sinn, das ist irgendwie abstoßend. Du bist verpflichtet und gebunden, nicht mehr frei..

MORGENSCHWEIF | 012

Anscheinend wachten heute viele Katzen erst relativ spät auf. Baumwollblüte, er selbst, Lichtfleck - okay, so viele waren das nicht, aber zumindest alle, mit denen er am heutigen Tag zu tun gehabt oder geredet hatte.
Der Kater fragte ihn, ob er schon draußen war, was er mit einem knappen "Ja", beantwortete. Er wartete ein zwei Sekunden, bevor er noch hinzu fügte: "Ich war mit Baumwollblüte jagen, aber die ist unterwegs noch mal abgebogen, um noch was anders zu jagen. Ich bin mit meiner Beute schon vor gegangen." Dass eigentlich Kupferbart aufgetaucht war und sie mitgenommen hatte, musste Lichtfleck nicht interessieren und er kannte keine Verbindung zwischen diesem und seiner Halbschwester, die ihn dazu bringen würde, sich überhaupt dafür zu interessieren. Wobei er andererseits die braungefleckte Kätzin selbst kaum kannte, vielleicht war da doch was, von dem er keine Ahnung hatte - aber jetzt war das nicht die Sache, um die es im Gespräch gehen sollte.
"Hast du schon gefrühstückt? Wir könnten uns was teilen. Die Patrouillen und Jagdgruppen sollten auch bald wieder kommen und jetzt los zu gehen wäre unnötig, am Abend gibt es dann ja auch wieder welche, die dafür eingeteilt werden."

MORGENSCHWEIF | 013

Lichtfleck stimmte seiner Idee zu, gemeinsamen zu frühstücken, und wandte sich dann ab, um vom Beutehaufen etwas zu holen. Morgenschweif war mittlerweile doch hungrig und hatte nicht mehr nur Appetit, denn die Jagd war zwar nicht sehr lang oder anstrengend gewesen, aber trotzdem energieraubend.
Bald kam sein Clankamerad zurück, legte ein Eichhörnchen vor ihm ab. Vermutlich das, was er vor kurzer Zeit gefangen hatte, denn er vermutete, dass Lichtfleck eines der obersten Tiere und keines von ganz unten gewählt hatte.
Kaum wollte er, da ihm das Tier zugeschoben worden war, den Kopf senken, um einen ersten Bissen zu nehmen, miaute sein Gesprächspartner etwas von einem Jungen. Er spitzte die Ohren, folgte seinem Blick und musterte das Kätzchen, das sich mitten auf der Lichtung befand und doch recht unbeholfen wirkte. Er kannte es nicht, und er schaute sich nie die neuen Jungen an, aber wieso war es so eingeschüchtert? Junge, die das Lager erkundeten, hatten eher Freude und lachten laut mit ihren Geschwistern herum. Und wo war die Mutter?
"Ich weiß nicht", antwortete er, und setzte noch im gleichen Atemzug fort: "aber Kastanienpelz, Feuervogel und Herbstblüte kümmern sich anscheinend um die. Wir können die ja später irgendwann mal fragen."

MORGENSCHWEIF | 014

Lichtfleck warf die Fragen auf, wann das Kleine ins Lager gekommen war, und erwähnte, wie auch Morgenschweif schon gegrübelt hatte, dass irgendwo doch die dazugehörige Mutter sein musste. Keine Kätzin würde ihr Kind einfach so weglaufen lassen, das widersprach allem. Man musste doch soetwas wie einen Mutterinstink spüren.
Okay, Morgenschweif hatte selbst keine Lust auf Jungen und die damit verbundenen Verpflichtungen, aber er setzte ja auch keine in die Welt. Aber wenn man sich einmal dafür entschieden hatte, hatte man auch dafür zu sorgen.
"Aber ich glaube langsam, dass das nicht zu uns gehört", stellte er fest.
Ein Junges muss geschützt werden, egal, aus welchem Clan es kommt - oder ob es ein Streuner ist, rief der Krieger sich das Gesetz der Krieger ins Gedächt nis und wandte den Blick wieder auf das Junge. Was würde man mit ihm machen? Es aufnehmen? Aber wer würde es dann säugen?
Das schlechteste, was passieren könnte, wäre natürlich, wenn es von seinem Clan ausgebüchst war und dieser denken würde, man hätte es gestohlen, weswegen ein Krieg angezettelt werden könnte. Aber daran wollte er gerade nicht denken, denn die Wahrscheinlichkeit lag bei höchsten zehn Prozent, wenn er schätzen müsste.

Morgenschweif leckte sich über die Pfote, bevor er sich an das Eichhörnchen erinnerte, das vor ihm lag und das gegessen werden wollte. Er beugte sich hinab und biss in das zarte Fleisch, schluckte es herunter und leckte sich anschließend das Maul, um die Reste weg zu bekommen, die sich vielleicht angesetzt hatten.
Daraufhin schob er es wieder zurück zu Lichtfleck, sah ihn aufmunternd an, als Zeichen, dass er jetzt dran war.

Rostsplitter tauchte auf, sprach kurz mit Kastanienpelz, Herbstblüte und Feuervogel, bevor sie das Junge nahm und mit ihm in einen Bau ging. So leicht war das wieder erledigt, und das war Morgenschweif nicht unrecht. Klar, auch ihn hatte im ersten Moment die Neugierde übermannt, doch so ein Drama war doch wirklich nicht nötig.
Mittlerweile lag das Eichhörnchen auch wieder vor ihm. Nicht mehr viel dran, noch einmal abbeißen und dann wäre es abgenagt. Da ihm dies überlassen wurde, genoss er diesen letzten Fetzen Fleisch, kaute, schluckte ihn herunter und leckte sich über die Zähne, bevor unerwartet eine dritte Stimme zwischen sie platzte, dazu jemand gegen ihn prallte.
Tigerpfote.

Die Schülerin war recht aufgewühlt, weil das Junge anwesend war, wollte wissen, was los war - für sie war das wohl noch das Aufregendste innerhalb des Mondes, denn dann machte man um alles ein großes Tara, besonders um jemanden im Clan, den man nicht kannte, und wenn es ein doch recht niedliches Junges war steigerte das die Aufregung natürlich nicht. Morgenschweif grinste über dieses Verhalten, auch wenn es nur einige Sekunden brauchte, bis er sich wünschte, Tigerpfote würde wieder runter kommen.
Nun fuhr sie mit ihrem Sprechen fort, und es zeigte sich, dass sie doch noch nicht mal wusste, was geschehen war. Der Gefleckte wartete kurz, dann setzte er zur Erklärung an: "Ein Junges, das keiner von uns kennt. Ich weiß nicht, er konnte es wirklich von hier aus nur erraten, aber ich glaube, das ist verletzt. Rostsplitter kümmert sich aber schon um es, kein Grund zur Sorge."